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Ich bin Deutsche und besuche seit 13 Jahren regelmäßig Weißrussland. Ich habe hier viele Freunde gefunden. Ich liebe Sprache, Land und Leute.Als ich zum ersten Mal im Oktober 2000 hierher unterwegs war, fuhren wir durch Bobrujsk. Diesen Ortsnamen kannte ich aus meiner frühesten Kindheit, konnte ihn jedoch nicht einordnen. Als 2006 meine Oma starb, fanden wir in ihrem Nachlass Zeichnungen meines Großvaters in Wehrmachtsuniform, dort stand "Bobrujsk". Sofort konnte ich mich an die Erzählungen meiner Großeltern erinnern, sie  waren oft Thema am Abendbrottisch. Opa war als Soldat in Bobrujsk, von dort brachte er viele Puppenstubenmöbel mit Strohintassien verziert und Schmuckkästchen mit. Sie waren mein Kinderspielzeug bei Oma und ihr Schmuck lag bis zu ihrem Lebensende in so einem Kästchen, eines davon bewahre ich als Ehrfurcht auf meinem Schreibtisch auf. Opa erzählte, dass er russische Kriegsgefangene bewacht hat und die Gegenstände von ihnen gefertigt wurden, die er gegen Brot eingetauscht hat. Als die Front kam, flohen die Deutschen; der Unteroffizier hatte den Befehl, die Gefangenen zu erschießen. Er übergab Opa die Schlüssel, sagte, er soll machen, was er will, er erschießt hier keinen und floh. Mein Opa hatte große Angst, heimlich öffnete er die Türen und floh ebenfalls. Zum Kriegsende geriet er  in der Nähe der Stadt Görlitz in russische Gefangenschaft. Als es um den Abtransport nach Sibirien ging, sagte ein Offizier der russischen Armee: Den könnt ihr laufen lassen, er hat uns in Bobrujsk auch frei gelassen. So kam mein Opa schon am 14. Juni 1945 in seinem Heimatdorf an.

2. Mein Vater war inzwischen 14 Jahre alt. Er hatte seinen Vater 4 Jahre gar nicht gesehen, vorher 2 Wochen im Fronturlaub. Er ist praktisch ohne Vater aufgewachsen. Welches Kind möchte das? Welche junge Familie möchte jahrelang getrennt voneinander leben? Welche Mutter möchte ihre Kinder ohne Vater erziehen? Und das immer mit Ungewissheit eines Wiedersehens! Natürlich wollten sie keinen Krieg. Meine Großeltern waren eine junge kleine glückliche Familie, bis sie der Krieg auf Jahre trennte, dieses Schicksal teilten sie mit allen Familien, egal aus welchem Land sie stammen.

3. Die Geschichte meines anderen Großvaters ist ebenso traurig wie immer noch peinlich. Ich will sie trotzdem erzählen, denn dieses Beispiel zeigt, denn selbst in den Reihen der finstersten Nazis normale Familienväter standen.
Als es deutlich wurde, dass es Krieg geben wird, war in der Familie meiner Großeltern bereits meine Mutter, ihre Schwester und ein Bruder geboren. Mein Opa wollte unter keinen Umständen von seiner Familie getrennt werden, Krieg kannte er vom ersten Weltkrieg und konnte sich noch gut an den Hunger erinnern, er war eines von 7 Kindern, die sich gegenseitig die Brotrationen wegaßen  und voneinander verstecken mussten. So entschloss er sich zur Polizei zu gehen. Polizisten bleiben daheim, sie müssen nicht an die Front, war seine Rede. Nur hatte er einen Fehler an sich: Er war groß, blond, blauäugig! Hitlers Vorstellung von einem Arier.  In einer Diktatur hat man wenig Wahlmöglichkeiten, wenn man nicht als Märthyier  sterben möchte. So kam mein Großvater zur SS. Er war nicht stolz darauf. Im Sommer entdeckte ich als Kind seine Tätowierung am Oberarm. Auf Nachfrage sagte er, dass ihn dort eine Biene gestochen hat.“

 

Die Geschichten von Heike Räder

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